Wie wird die Aufmerksamkeit von Lehramtsstudierenden beim Unterrichten durch das Verhalten der Lernenden beeinflusst?*

Autor*innen: Patricia Goldberg, Jakob Schwerter, Tina Seidel, Katharina Müller & Kathleen Stürmer

Abstract

Eine zentrale Aufgabe von Lehrkräften ist es, das Klassengeschehen kontinuierlich im Blick zu behalten und visuelle Hinweise im Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler zu identifizieren (Wolff et al., 2016). Wenn Lehrkräfte erkennen können, ob ihre Schüler*innen in aktive Lernprozesse involviert sind, haben sie die Möglichkeit, die zur Verfügung stehende Zeit optimal zu nutzen und erfolgreiche Lernprozesse anzuregen.

Bisherige Forschung zeigt allerdings, dass insbesondere unerfahrene Lehrkräfte Schwierigkeiten darin haben, das Klassengeschehen kontinuierlich zu beobachten und lehr-lernrelevante Situationen zu identifizieren (Berliner, 2001). So zeigen beispielsweisen Untersuchungen mit mobilen Eye-Trackern, dass Lehramtsstudierende während des Unterrichts kaum in der Lage sind, alle Lernenden gleichmäßig im Blick zu behalten (Cortina et al., 2015; Stürmer et al., 2017). Zudem demonstrieren Studien mit stationären Eye-Trackern, dass unerfahrene Lehrkräfte häufig auffällige Verhaltensweisen der Lernenden, wie beispielsweise Störungen, fokussieren (Wolff et al., 2016). Dies legt die Vermutung nahe, dass die Aufmerksamkeitsprozesse von unerfahreneren Lehrkräften eher bottom-up, durch auffällige Reize gelenkt werden, als durch die Intention die kognitive Prozesse der Lernenden zu diagnostizieren (top-down; Schütz et al., 2011). Es ist jedoch notwendig, dass Lehrkräfte nicht nur auf auffälliges Verhalten reagieren, sondern auch unauffällige Hinweise auf Probleme und Schwierigkeiten in eher passiven Verhaltensweisen frühzeitig als solche erkennen.

Bisher ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren die Aufmerksamkeit unerfahrener Lehrkräfte während des Unterrichtens beeinflussen. Die vorliegende Studie untersucht daher, ob bestimmte Verhaltensweisen von Lernenden die Aufmerksamkeit von Lehramtsstudierenden auf sich ziehen. Des Weiteren zeigen Studien aus der psychologischen Aufmerksamkeitsforschung, dass auffällige Reize die visuelle Aufmerksamkeit lenken (bottom-up), bevor intentionale Prozesse in die Steuerung eingreifen (top-down; Theeuwes et al., 2000). Daher berücksichtigt die vorliegende Studie zudem, ob sich der Aufmerksamkeitsfokus von Lehramtsstudierenden im Verlauf der Instruktionszeit verändert. Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden N = 4 Videos mit insgesamt 3646 Sekunden re-analysiert, in welchen Lehramtsstudierende vier simulierte Lernende unter standardisierten Bedingungen unterrichten (Stürmer et al., 2017).
Die vorliegende Studie implementiert einen neuen methodischen Ansatz, welcher die bereits existierenden Eye-Tracking Daten der Lehramtsstudierenden mit einem kontinuierlichen Verhaltensrating der Lernenden synchronisiert.

Das Verhaltensrating kombiniert die Differenzierung in On- und Off-Task-Verhalten (Helmke & Renkl, 1992; Hommel, 2012) mit bestehenden Instrumenten der Engagement-Literatur und nutzt das ICAP-Framework (Chi & Wylie, 2014) als Ansatz, um das behaviorale Spektrum von Lernenden weiter aufzugliedern (passiv bis interaktiv). Der resultierende Datensatz spezifiziert für jede Sekunde, wie sich die Lernenden verhalten, worauf die Lehramtsstudierenden ihre Aufmerksamkeit fokussieren und was die Lehramtsstudierenden machen (z.B. Anweisungen geben, Fragen stellen, usw.). Anschließend wurden Zeitreihenanalysen anhand Multinomialer Regressionen durchgeführt.

Die Ergebnisse zeigen, dass Lehramtsstudierende ihre Aufmerksamkeit mit höherer Wahrscheinlichkeit auf die Lernenden fokussieren, die aktives beziehungsweise interaktives, lern-relevantes Verhalten aufweisen (z.B. Fragen stellen oder Sachverhalte erklären). Die Wahrscheinlichkeit fokussiert zu werden sinkt, je weniger sich Lernende am Unterricht beteiligen, und nimmt durch unkonzentriertes und störendes Verhalten weiter ab . Zudem deuten die Ergebnisse darauf hin, dass das Verhalten der Lernenden schon früh im Instruktionsverlauf einen Einfluss auf die Aufmerksamkeit der Lehramtsstudierenden nimmt und der Effekt über die Zeit hinweg stabil ist.

*Dieser Beitrag wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.