Welche Erkenntnisse der Forschung zur Lese-Rechtschreibstörung lassen sich auf geringe Literalität übertragen?*

Autor*innen: Réka Vágvölgyi, Kirstin Bergström, Maria Klatte, Aleksandar Bulajić, Tânia Fernandes, Michael Grosche, Falk Hüttig, Jascha Rüsseler & Thomas Lachmann

 

Abstract

Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung in den Industrieländern sind gering literalisierte Erwachsene (veralteter Begriff: funktionale Analphabeten). Trotz einiger Jahre Schulbildung können diese Personen nur Wörter und Sätze, nicht aber kurze Texte richtig lesen und schreiben (Grotlüschen et al., 2019). Ein häufig diskutierter Ansatz (Greenberg et al., 1997) betrachtet schwache phonologische Verarbeitungsfähigkeiten in Verbindung mit einer unbehandelter Lese- und Rechtschreibstörung (LRS) als mögliche Ursachen für geringe Literalität.

LRS ist durch eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung des Leseerwerbs gekennzeichnet, die sich auf der Verhaltensebene durch eine verminderte Lesegenauigkeit und Leseflüssigkeit und/oder durch ein geringes Leseverständnis äußern kann. Die Leseleistungen liegen deutlich unter dem Niveau, welches aufgrund des chronologischen Alters, der allgemeinen kognitiven Entwicklung und der Schulbildung zu erwarten wäre (F81.0, WHO, 2019). Trotz durchschnittlicher Intelligenz und ausreichender Schulbildung bleiben einige Schwierigkeiten bis ins Erwachsenenalter bestehen (z. B. Reis et al., 2020).

Neuere Umfragen haben gezeigt, dass die Prävalenz der LRS bei Erwachsenen mit geringer Literalität in Deutschland höher ist (7-15 %, Grotlüschen & Solga, 2019; Fickler-Stang, 2011) als in der Gesamtbevölkerung (2.1 %; Fischbach et al., 2013). Obwohl es eine Anzahl von Studien gibt, die auf Gemeinsamkeiten zwischen LRS und geringer Literalität verweisen, wurden die verfügbaren Erkenntnisse bisher nicht systematisch erfasst.

Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, alle verfügbaren Studien, die sowohl gering literalisierte Erwachsene als auch Personen mit LRS einbeziehen, systematisch zu sammeln und zusammenzufassen, und den möglichen Zusammenhang zwischen diesen beiden Gruppen zu untersuchen. Unsere Forschungsfrage lautete demnach: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen geringer Literalität und LRS?

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde ein systematisches Review durchgeführt. Ein Studienprotokoll wurde im Voraus registriert (PROSPERO: CRD42020156766, Lachmann et al., 2020) und die PRISMA-Richtlinien (Moher et al., 2009) wurden während der gesamten Studie eingehalten.

Da die Begriffe und Definitionen der geringen Literalität sehr heterogen sind, wurde eine umfangreiche Suchstrategie mit einer Vielzahl von Begriffen (z. B. functional illiterates, low literate adults, adult basic education students) angewandt. In 9 elektronischen Datenbanken wurden alle verfügbaren Datensätze mit quantitativen Originaldaten gesammelt, die in englischer oder deutscher Sprache verfasst sind und sowohl gering literalisierte Erwachsenen als auch Personen mit LRS untersuchen. Nach dem Entfernen von Duplikaten wurden ein Titel- und Abstract-Screening und später ein Volltext-Screening der in Betracht kommenden Datensätze von zwei unabhängigen Kodierern durchgeführt.

Die Suche ergab 9.267 Datensätze, von denen 5 die Einschlusskriterien erfüllten. Die Ergebnisse weisen auf einen Mangel an Studien hin, die gering literalisierte Erwachsene direkt mit Personen mit LRS vergleichen. Darüber hinaus wurde eine große Heterogenität zwischen den Studien in Bezug auf die Herangehensweise an das Konzept der geringen Literalität festgestellt, insbesondere in Bezug auf die angewandte Definition, die Terminologie, die Einschlusskriterien für die Stichprobe, den Forschungsschwerpunkt und die verwendeten Maße zur Erfassung der Leseleistung.
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass mehr direkte Vergleiche erforderlich sind, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen geringer Literalität und LRS systematisch herauszuarbeiten.

***** Diese Studie ist seit ihrer Aufnahme in die GEBF 2020 veröffentlicht worden (siehe Vágvölgyi et al., 2021).

 

*Dieses Poster wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.