Audiokommentar der Autor*innen:
Abstract
Die professionelle Kompetenz von Lehrpersonen ist eine wichtige Voraussetzung, um erfolgreichen Unterricht und damit den Lernprozess von Schülerinnen und Schülern optimal zu gestalten.
Das Modell nach Blömeke, Gustafsson, & Shavelson (2015) beschreibt Kompetenz als ein Kontinuum zwischen kognitiv und affektiv-motivationalen Dispositionen und Performanz in Form von beobachtbarem Handeln. Vermittelt wird diese Beziehung von Wissen und Handeln durch situationsspezifische Fähigkeiten (Wahrnehmung, Interpretation, Entscheidungsfindung).
Eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches Lehrerhandeln stellt eine gute Klassenführung dar (Wang, Haertel, & Walberg, 1993). Darunter versteht man nach Kounin (2006) die Fähigkeit, das Unterrichtsgeschehen proaktiv zu steuern. Um dies jedoch adäquat meistern zu können, bedarf es der professionellen Wahrnehmung als Verbindungsglied zwischen Wissen und Handeln (vgl. Blömeke et al., 2015). Professionelle Wahrnehmung lässt sich nach Sherin & van Es (2005) in zwei Aspekte aufteilen: Noticing und Reasoning. Ersteres stellt die Fähigkeit dar, Aufmerksamkeit auf Situationen zu lenken, die für Lehren und Lernen relevant sind. Je früher eine Lehrkraft klassenführungsrelevante Situationen wahrnimmt und diese antizipiert, desto besser gelingt die proaktive Steuerung des Unterrichtsgeschehens. Kounin (2006) beschreibt diese Fähigkeit auch mit dem Begriff „withitness“, der die Fähigkeit der Lehrkraft beschreibt, jederzeit über alle Vorgänge im Klassenzimmer informiert zu sein, wofür eine gute Wissensorganisation notwendig ist.
Aus der Expertiseforschung ist bekannt, dass diese Wissensbasis bei Experten effektiver organisiert ist (Wolff, van den Bogert, Jarodzka, & Boshuizen, 2015) und damit auch die Wahrnehmung beeinflusst (Stahnke, Schueler, & Roesken-Winter, 2016). Es konnte z.B. gezeigt werden, dass Lehrexperten ihre Aufmerksamkeit eher auf die gesamte Klasse verteilen, während Novizen lediglich einzelne Schülerinnen und Schüler im Blick haben und dass Experten schneller potentielle Störsituationen identifizieren können (Carter, Cushing, Sabers, Stein, & Berliner, 1988).
Zur Erfassung des frühzeitigen Erkennens von klassenführungsrelevanten Situationen wurden Beobachtungsverfahren und Videoanalysen von videografierten Unterrichtssituationen durch (angehende) Lehrkräfte durchgeführt oder Fragebögen verwendet (Seidel, Blomberg, & Stürmer, 2010). Durch diese Art der Messung lässt sich jedoch hauptsächlich der Aspekt des Reasoning, nicht jedoch des Noticing direkt erfassen. Zur direkten und kontinuierlichen Erfassung des basalen Noticing-Prozesses sind prozessbasierte Methoden wie bspw. das Eye-Tracking besonders geeignet (Riedl, Brandstätter, & Roithmayr, 2008).
Im Rahmen der Expertiseforschung wird das Eye-Tracking-Verfahren bereits in mehreren Domänen (z.B. Medizin, Schach, Flugsicherheit und Verkehrspsychologie) verwendet, um kognitive Wahrnehmungsprozesse zu erfassen (z.B. Gegenfurtner, Lehtinen, & Säljö, 2011). Mit Hilfe verschiedener Indikatoren kann z.B. überprüft werden, welche Bereiche fixiert werden oder wie die Aufmerksamkeit über den Klassenraum verteilt wird (Holmqvist et al., 2011).
In bisherigen Studien, in denen Eye-Tracking-Verfahren zur Messung der professionellen Wahrnehmung in Bezug auf Klassenführung eingesetzt wurden, wurde eine Vielzahl von Indikatoren verwendet, die sich teilweise als sensitiv gegenüber Expertiseunterschieden erwiesen haben (z.B. Gegenfurtner et al., 2011).
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, einen Überblick über die bisher verwendeten Eye-Tracking-Maße zur Erfassung der professionellen Wahrnehmung zu schaffen und zusammenzufassen, welche Maße geeignet sind, Expertiseunterschiede zu identifizieren. Hierfür wurde eine systematische Literaturrecherche durchgeführt, indem die drei Datenbanken EbscoHost, PsycInfo und Web of Science für den Zeitraum von 1999 bis 2019 durchsucht und cross-referenced wurden. Es konnten 10 Artikel, die insgesamt 11 Studien enthalten, herausgefiltert werden, die sich mit der direkten Erfassung der professionellen Wahrnehmung klassenführungsrelevanter Situationen des Unterrichts via prozessbasierter Methoden wie bspw. Eye-Tracking beschäftigten. In fast allen einbezogenen Studien wurden Parameter zur Messung der Aufmerksamkeitsverteilung (z.B. GINI-Koeffizient, mean fixation duration on each AOI) und der Fixationsdauer verwendet, wobei Experten ihre Aufmerksamkeit gleichmäßiger verteilen und im Durchschnitt auch weniger Zeit bei den einzelnen AOIs verbrachten. Ebenfalls expertisesensitiv war z.B. das Monitoringverhalten, welches mit Hilfe von revisits zu bereits fixierten AOIs erfasst wurde: Experten kehren häufiger zu relevanten Bereichen zurück.
Die Eignung der verschiedenen verwendeten Indikatoren wird für die Erfassung der professionellen Wahrnehmung von Lehrkräften im Bereich der Klassenführung diskutiert.
*Dieses Poster wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.