Abstract
Der Beitrag basiert auf meinem Dissertationsprojekt zum Thema „Mehrsprachiges Bedeutungswissen – Fallstudien zu bildungssprachlichen Begriffen bei mehrsprachigen Grundschulkindern“, in dem die Ausprägung des kindlichen Bedeutungswissens von deutsch-türkisch bilingualen Grundschulkindern der vierten Klasse untersucht wurde.
Die zentrale Fragestellung der Studie ist, wie das (Wort-)Bedeutungswissen von ein- und mehrsprachigen Kindern intra- und interlingual beschrieben und welche Schlüsse für die didaktische Implementierung der Wissensressourcen gezogen werden können. Zur Beschreibung des Bedeutungswissens in semantisch-konzeptueller Hinsicht wurde ein Wortbeschreibungsmodell in Anlehnung an Wiegand 1988 entwickelt, das sowohl strukturalistische (vgl. Ullmann 1973) als auch semantisch-konzeptuelle Elemente (vgl. Polenz 1988) enthält. Die Erhebung und Auswertung des Bedeutungswissens erfolgte am Beispiel von sechs ausgewählten bildungssprachlichen Wörtern. Mit der Untersuchung wird intendiert, neue Wege in der Mehrsprachigkeitsforschung hinsichtlich kognitiv-semantischer Ressourcen zu eröffnen. Sie liefert neue Erkenntnisse für den aktuell vielseitig geführten Diskurs Sprachliche Bildung im Kontext der Mehrsprachigkeit.
Die Daten von insgesamt 23 Kinder (Ntürkisch=11, Ndeutsch=5, Nandere=7) wurden mithilfe von schriftlichen sowie mündlichen Elizitierungstechniken erhoben und einer typisierend-strukturierenden Inhaltsanalyse unterzogen (vgl. Gläser-Zikuda 2011).
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist es, dass die Mehrheit der Kinder im vierten Schuljahr unabhängig des sprachlichen Hintergrunds in der Lage ist, semantisch komplexe Wörter zu erfassen. Bildungssprachliche Wörter werden verstanden und konzeptuell aufgebaut. Es gibt keine nennenswerten Unterschiede zwischen den türkischsprachigen und nicht-türkischsprachigen Kindern. Die geringen qualitativen Unterschiede zwischen den Outputs der Sprachgruppen sind weniger sprachbiographischer Natur sondern vielmehr intralingualer (z. B. Bekanntheit des Items), wobei zweisprachige Probanden im Deutschen über ein differenzierteres Bedeutungswissen verfügen als im Türkischen, worin sie lediglich ein Basiswissen zum Ausdruck bringen. Das herkunftssprachliche Bedeutungswissen stellt eine größere Herausforderung dar als das Bedeutungswissen im Deutschen. Des Weiteren stellt das Erfassen und die Anwendung eines differenzierten Bedeutungswissens eine Herausforderung für (fast) alle dar. Während einige Wortbedeutungen bereits rezeptiv sowie produktiv beherrscht werden, werden vor allem abstrakte Bedeutungen nur teilweise verstanden.
Des Weiteren wurde untersucht, ob zweisprachige Kinder ihr Bedeutungswissen auf die andere Sprache übertragen. Sie bilden konzeptuelle Analogien nur dann, wenn sie bereits über ein semantisches Basiswissen in beiden Sprachen verfügen. Die konzeptuelle Analogiebildung wird von vielen Faktoren beeinflusst, von den verfügbaren sprachlichen Mitteln, von den linguistischen Aspekten des Zielwortes oder von eingeschränktem Bedeutungswissen in der Zielsprache Deutsch. Einige Probanden, und vor allem diejenige, die einen intensiven schriftsprachlichen Kontakt mit dem Türkischen (ermittelt anhand des Schüler- sowie Eltern-Fragebogens) aufweisen, bildeten systematische Analogien, die ihnen halfen, u. a. bildungssprachliche Wörter im Türkischen zu erfassen. Literalitätserfahrungen in der Herkunftssprache beeinflussen also den Konzeptaufbau und die Verbalisierbarkeit der Konzeption. Um robustere Aussagen über den Zusammenhang zwischen sprachbiographischen Merkmalen und der Bedeutungskonstitution treffen zu können, bedarf es jedoch eines größeren Stichprobenumfangs.
Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, ob und wie die vorhandenen Wissensressourcen im Rahmen einer ressourcenorientierten Wortschatzarbeit aufgegriffen und erweitert werden können, auch im Sinne einer Gesamtsprachlichkeit. Wissensressourcen bleiben ungenutzt und können nicht als kognitive und affektive Grundlage für weitere Lernbereiche fungieren, solange dies nicht systematisch in adäquaten Lehr-Lernarrangements einbezogen wird. Ein vorhandenes und ausbaufähiges Basiswissen über das Bedeutungsspektrum der ausgewählten Wörter sowohl im Deutschen als auch im Türkischen sowie der intensive schriftsprachliche Kontakt zum Türkischen und zum Deutschen gute Grundlagen für den Auf- und Ausbau des (mehrsprachigen) Bildungswortschatzes. In einer systematischen Wortschatzarbeit kann das Wissen über semantisch komplexe Wörter aufgegriffen und didaktisch sinnvoll etabliert werden.
*Dieser Beitrag wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.