Abstract
Es gibt zahlreiche empirische Evidenz für den Einfluss des akademischen Selbstkonzeptes – begriffen als die „Gesamtheit der kognitiven Repräsentationen eigener Fähigkeiten in akademischen Leistungssituationen“ (Dickhäuser et al. 2002) – auf Lernprozesse und Leistungen sowie auf Bildungs- und Karriereentscheidungen und somit auf individuelle Kompetenzentwicklung und Bildungsverläufe (Henderson et al. 2017; Dickhäuser et al. 2005; Rubie-Davies und Lee 2013). Während schulische Selbstkonzepte Gegenstand vieler Studien sind, ist das akademische Selbstkonzept von Studierenden hingegen ein weitgehend unerforschtes Gebiet (Rubie-Davies & Lee, 2013).
Untersuchungen zu den akademischen Selbstkonzepten von Schülerinnen und Schülern haben relativ übereinstimmend gezeigt, dass es – auch bei gleichem Leistungsstand – deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in den fachspezifischen Selbstkonzepten gibt, die den allgemeinen Geschlechterstereotypen entsprechen (Brehl et al. 2012; Moschner und Dickhäuser 2018; Nagy et al. 2010; Schilling et al. 2006; Wendt et al. 2016). Für geschlechtsspezifische Differenzen im akademischen Selbstkonzept in der Hochschule haben die wenigen Studien bisher ergeben, dass Frauen in den Fachbereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) ein schwächeres akademisches Selbstkonzept aufweisen als Männer, was vor allem mit domänenspezifischen Geschlechterstereotypen begründet wird. Es wird argumentiert, dass Studentinnen ihre akademischen Fähigkeiten unterschätzen (bzw. Studenten ihre überschätzen), da Kompetenzen in MINT dem männlichen Geschlecht zugeschrieben werden. Ob es wirklich domänenspezifische Geschlechterstereotype sind, die zu dieser Differenz führen, oder ob es sich um ein allgemeines Phänomen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung der generellen akademischen Leistungsfähigkeit handelt, kann in den hauptsächlich vorliegenden auf bestimmte Studienfächer reduzierten Untersuchungen nicht beantwortet werden.
Mit unserem Papier wollen wir dazu beitragen, die bestehende Forschungslücke zu schließen, indem wir das akademische Selbstkonzept von Studierenden aller Fachrichtungen untersuchen. Dabei soll zunächst die Frage beantwortet werden, ob es geschlechtsspezifische Differenzen im akademischen Selbstkonzept von Studierenden gibt und, falls ja, inwiefern diese zwischen den Fächergruppen variieren.
Theoretisch basiert unsere Arbeit auf dem Erwartungs-Wert-Modell von Eccles und Kollegen (Eccles und Wigfield 2002), nach dem das Selbstkonzept nicht nur durch die objektiven Fähigkeiten eines Individuums, sondern auch durch die Erfahrungen mit und Interpretationen der sozialen Umwelt und somit indirekt durch Geschlechterstereotype beeinflusst ist. Vor diesem Hintergrund erwarten wir, dass männliche Studierende ihre Fähigkeiten in typisch männlichen Fächern besser einschätzen als Studentinnen, während weibliche Studierende im Vergleich zu Studenten eine höhere Einschätzung ihrer Fähigkeiten in den typisch weiblichen Fächern aufweisen sollten. In geschlechterneutralen Fächergruppen werden keine systematischen Geschlechterunterschiede im Selbstkonzept erwartet.
Die empirischen Analysen basieren auf den Daten der Startkohorte 5 des Nationalen Bildungspanels (NEPS), die Studienanfänger(innen) an deutschen Hochschulen des Wintersemesters 2010/11 durch ihr Studium bis in den Beruf begleitet (doi:10.5157/NEPS:SC5:12.0.0). Das akademische Selbstkonzept wurde mit Items zu den studienbezogenen Fähigkeiten und Begabungen erfasst. Verwendet werden die Daten von 10.425 Studierenden, die zum Zeitpunkt der Erhebung das zweite Studienjahr begonnen haben. Zur Beantwortung der Forschungsfragen werden logistische Regressionsmodelle in männlich dominierten, weiblich dominierten und geschlechterneutralen Fächergruppen geschätzt.
Die Ergebnisse zeigen, dass Studenten ihre studienbezogenen Fähigkeiten in allen Fächergruppen – und nicht nur in den typisch männlichen (MINT-)Fächern – höher einschätzen als Studentinnen, wobei der geschlechtsspezifische Unterschied in den weiblich dominierten Fächern kleiner ist als in den männlich dominierten. Dass dieser Befund auch nach Kontrolle der domänenspezifischen Fähigkeiten besteht, deutet darauf hin, dass nicht nur domänenspezifische Geschlechterstereotype wirken, sondern auch allgemeine Geschlechterstereotype in Bezug auf die akademische Leistungsfähigkeit generell.
*Dieser Beitrag wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.