„Den richtigen Weg finden. Verwirklichungschancen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erwerbsverläufen“*

 

Autor*innen: Christin Schafstädt

Abstract

Lebensläufe werden durch Bildungsentscheidungen strukturiert und sind vor allem an Übergängen im Bildungssystem von enormer Bedeutung (Böhnisch 2012; Miethe/Dierckx 2014). In der bisherigen Forschung wird häufig das Ergebnis von Entscheidungen im Bildungs- und Erwerbssystem als chronologische Abhandlung im Lebensverlauf vorgenommen. Der Prozess des Abwägens und Verwerfens von Optionen wird jedoch weniger fokussiert und stellt das zentrale Erkenntnissinteresse dieser Arbeit dar. Das Ziel der Studie ist es, den Auswahl- und Entscheidungsprozess im Übergang von der Schule vor dem Hintergrund des Capability Approach zu untersuchen. Der von Amartya Sen in mittlerweile vielen Fachbereichen etablierte Capability Appraoch (Sen 1985, 2002, 2005) als Ansatz zur Analyse menschlichen Wohlergehens geht davon aus, dass es für das menschliche Wohlergehen mehr bedarf als materielle Güter und Wohlstand (Clark 2005; Vahsen 2012; Volkert 2014). Der Capability Approach grenzt sich durch den Fokus auf Verwirklichungschancen insofern von der Humankapitaltheorie ab, als dass das Handeln der Menschen mehrdimensional und nicht einseitig als arbeitsmarktbezogene Verwertbarkeit betrachtet wird (Oelkers u.a. 2008; Grundmann 2010; Babic 2011). Vielmehr sind es die individuellen Freiheiten der Menschen, ein Leben nach eigenen Wertvorstellungen führen zu können, die das individuelle Wohlergehen bestimmen. Der Capability Approach ist somit einen Ansatz, der die Bedingungen und Beschränkungen eines guten Lebens in den Blick nimmt, ohne dabei vorzuschreiben, was als das »gute Leben« gilt und richtet seinen Blick auf interne und externe Rahmenbedingungen, die den Zugang zu individuell guten Leben ermöglichen oder verhindern (Otto/Ziegler 2010).

Da der Capability Approach keine Theorie des Entscheidens bereitstellt (Bartelheimer 2009; Comin 2003; Leßmann 2011), soll diese Forschungsarbeit hierzu einen Beitrag leisten und Befähigungsmerkmale für die Gestaltung individueller Bildungs- und Erwerbsverläufe ableiten. Fokussiert werden hierbei Abiturient*innen, dessen Wahlmöglichkeiten breit gefächert sind, was gleichzeitig als eine Chance und Problem angesehen werden kann (Oechsle u.a. 2009). Es soll untersucht werden, wie sich die Entscheidungssituation im Übergang von der Schule gestaltet, welche Pläne und Vorstellungen die Schüler*innen haben, welche Wahlmöglichkeiten existieren und in welcher Weise Beschränkungen zur Realisierung von Handlungen vorliegen. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsinteresses lautet die forschungsleitende Fragestellung: Welche Verwirklichungschancen haben Schüler*innen bei der Gestaltung ihrer Bildungs- und Erwerbsbiografie im Übergang von der Schule?

Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurden Interviews mit Schüler*innen der Abgangsklasse eines Gymnasiums zu zwei Zeitpunkten geführt: kurz vor dem Schulabschluss und zwei Jahre danach. Die Gespräche, welche mit der Methode des problemzentrierten Interviews (Witzel 1982; 2000) geführt wurden, werden mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet (Bohnsack 2003, 2013, 2014 sowie Nohl 2013, 2017) und ermöglichen die Rekonstruktion von Erfahrungen und Handlungsorientierungen und somit der Handlungspraxis bezogen auf die Übergangsgestaltung.

Erste Auswertungen deuten darauf hin, dass die Auswahloptionen der jungen Erwachsenen durch rudimentäre Berufsorientierung eingeschränkt scheinen. So wird sich häufig an den Berufsbildern von Familienmitgliedern und nahestehenden Bekannten orientiert und es werden nur selten »fremde« Fachbereiche in Erwägung gezogen. Ebenso sind viele junge Erwachsene lokal verortet, was das Auswahlspektrum ebenfalls einschränkt. In den Gesprächen wird auch deutlich, dass die subjektiv empfundene Erwartungshaltung von Eltern und der Gesellschaft gegenüber Abiturient*innen sich auf die Entscheidung zwischen Studium und Ausbildung auswirkt und eine Ausbildung nur in Ausnahmen in Betracht gezogen wird. All diese bisherigen Eindrücke lassen vermuten, dass trotz der großen Entscheidungsmöglichkeiten die Schüler*innen im Übergang in ihrer Handlungsfreiheit aufgrund externe Faktoren beeinflusst scheinen, auch wenn sich die jungen Erwachsenen als stark handlungsfähig und selbstbestimmt präsentieren. In welcher Weise dies eine Form des Bewältigungshandeln eingeschränkter Verwirklichungschancen darstellt, muss noch herausgearbeitet werden.

 

*Dieses Poster wurde im Rahmen des digitalen Jahres der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (digiGEBF21) eingereicht und ist bis zum 31.12.2022 an dieser Stelle verfügbar. Alle Rechte liegen bei den Verfasser*innen.